Wolfgang Müller⎟ Jenseits vom autonomen Atom und belehrender Kunstsozialarbeit⎟2009

Wolfgang Müller⎟ Jenseits vom autonomen Atom und belehrender Kunstsozialarbeit⎟2009
Die Fahrt führt vorbei an Trödel-Dödel, Döner Paradies, Rudis Resterampe und der Bäckerei Pastoral. Mit dem Fahrrad unterwegs Richtung Berlin-Neukölln. Im Jahr 2002 gewann das Projekt „Werkstatt für Veränderung“ von Seraphina Lenz eine Ausschreibung des dortigen Bezirksamtes. Kunst sollte in den Carl-Weder-Park gebracht werden. Seine tief schlummernden, inhärenten Qualitäten sollten so sichtbar werden. Statt einfach eine hübsche Skulptur auf die Wiese zu pflanzen, hat die Künstlerin so etwas wie eine sich ständig verändernde, unsichtbare künstlerische Plastik entwickelt. Diese nimmt Bezug auf ihre eigenen künstlerischen Vorstellungen wie auch auf die Außenwelt. Nach anfänglicher Zurückhaltung scheinen sich die Anwohner aktiv am Projekt zu beteiligen. Kochen ist angesagt. Gerade geht es darum, diverse Rezepte auszuprobieren. Kinder und Jugendliche haben sich um einen Tisch am Container des Projektes versammelt. Die Rezepte haben sie von ihren Familien oder Freunden mitgebracht. Vom Güvec à la Alkyüz über die Gemüsesuppe Marinkovic bis zur Kürbiscremesuppe Khaled. Liebe und Kunst gehen auch durch den Magen.

Seit 2003 inszeniert die Künstlerin jährlich im Carl-Weder-Park ihr organisch wachsendes Kunstwerk mit seinen oszillierenden Grenzen. Die erste Park-Inszenierung trug den strengen Titel „Platz nehmen“. Die Installation wirkte etwas verloren auf dem Rasen: Neun Liegestühle, auf die sich Parkbesucher setzen konnten. Vielleicht war es einfach noch ein bisschen zu didaktisch: Bitte Hinsetzen zum Entspannen – auf jeden Fall funktionierte die Offerte nicht so recht. Wie die Postkarte beweist, mit der Seraphina Lenz die Resultate ihrer jährlichen Aktionen dokumentiert: Die attraktiven blauen Liegestühle blieben leer. Dagegen nimmt man im Hintergrund eine Frau mit Kind wahr, die offensichtlich die abgeschabte, gewohnte Parkbank vorzieht. Schönes Scheitern.

In den folgenden Jahren berührt die Künstlerin ihre Umgebung unmittelbarer, näher – entsprechend steigt auch das Interesse der Anwohner. Die Themen ihrer performativen Inszenierungen reichen nun vom Talentbewerb, einem Filmprojekt bis zu Bepflanzungsaktionen. Mit diesen Inszenierungen zeigt Seraphina Lenz, dass Wandel als Interaktion mit offenen Grenzen Gewinn für alle Beteiligten bringen kann.

Die meisten Künstler möchten mit ihrer Kunst vorrangig vermitteln, dass sie einen ganz individuellen, sehr persönlichen Ausdruck haben. Dass sie eine Persönlichkeit, ein Individuum sind. Eigentlich völlig sinnlos. Denn jeder Mensch hat sowieso eine ganz eigene, unverwechselbare Handschrift. Ja, sogar unangenehme Menschen haben das. Dann gibt es wiederum Künstler, die andere Menschen dazu motivieren wollen, brachliegende Kreativität zu entdecken und zu entwickeln. Aber diese Kunst gerät leicht in die Nähe allzu pädagogischer Kunst. Es besteht die Gefahr, so zu enden wie der „Baumpate“ Ben Wargin. Der Lieblingskünstler des alten Westberliner Kultur- und Politklüngels pflanzte unentwegt überall seine Gingkos, plapperte unentwegt von Naturschutz und fröhlichem Miteinander – und sägte die geschützten alten Bäume vor seinem Haus eines Nachts heimlich ab: Sie warfen störenden Schatten in sein Atelier. Die Behörde ermittelte wegen Verstoß gegen das Naturschutzgesetz.

In die erwähnte Falle des Entweder-Sozialarbeiterkunst-oder-autonomes-Atom ist Seraphina Lenz nicht getappt: Sie gehört zu den Künstlern, die im lokalen Globales entwickeln: glokale Kunst. Eine Transdisziplinarität zwischen Lokalem und Globalem, keine Leugnung und Vertuschung von Hierarchien, kein Neo-Individualliberalismus – eine glokale Kunst, jenseits vom Glauben an den autonomen Atomkünstler oder den belehrenden Sozialpädagogen.

Erschienen in: Junge Welt, 2. Oktober 2009
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