Seraphina Lenz⎟Die Werkstatt weckt den weißen Riesen oder die Kunst einen Ort zu erfinden⎟2013

Seraphina Lenz⎟Die Werkstatt weckt den weißen Riesen oder die Kunst einen Ort zu erfinden⎟2013
Am letzten Tag stecken alle in den Vorbereitungen. Wie immer kommen die Stars zu spät oder müssen zur Tante in den Wedding. Wie immer ist jemand beleidigt und will nach Hause gehen. Der  Wind zerrt an Textbahnen mit Gedichten. Erste Gäste bringen die Gestaltung durcheinander, Windeln und Krümel von Babykeksen liegen auf schönen Stoffen, Schokolade auf den handbedruckten Kissen. Wo bleibt eigentlich Khaled? Auf ihn ist doch immer Verlass, er hat großen Anteil am Projekt. Ich kenne ihn schon jahrelang. Das Telefon klingelt „äh, Khaled hier, du ich hab schlechte Nachrichten, ich liege im Bett und habe Fieber“. „OK“ denke ich, „Khaled, die Säule des Cafés. Eintänzer im Stück von Anne Sylvie. Der kommt nicht.“ „OK“ sage ich, „das ist ja echt schade“ Und denke: „Verdammt ja Mann, wenn er krank ist...“ da tippt mir einer auf die Schulter und lacht: Khaled. Tagebuch, 9. September 2012, 17 Uhr 

Umgeben von einem hohen Zaun, dem Blick entzogen und weitgehend ungenutzt hat der Ort im Wederkiez das Flair einer romantischen Ruine im Dornröschenschlaf. Der Auftrag des Amts für Stadtplanung Neukölln lautet, eben hier einen Kulturstandort für Kinder und Jugendliche zu entwickeln. Offen blieb dabei, was genau eigentlich unter einem ‚Kulturstandort’ zu verstehen ist. Dies sollte gemeinsam mit einem interdisziplinären Team von Künstlerinnen und Künstlern sowie Kindern und Jugendlichen aus der Nachbarschaft untersucht und erforscht werden.

2011, erste Ortbegehung: der Ort wird in seiner stadträumlichen Lage mit seinen emotionalen Hürden und Chancen umrundet und erkundet. Das markante große weiße Zeltdach steht im Norden Neuköllns zwischen Autobahntunnel, Britzer Damm und Buschkrugallee. Es beschirmt ein Hochplateau, auf dem mehrere funktionale Container angeordnet sind. Die Vegetation hat sich lange ungestört ausbreiten können. Es ist still hier, wenn nicht gerade eine Schulklasse aus der benachbarten Zürich Schule einen Ausflug in den Schulgarten macht oder die Motoradfahrer des Klubs „die 44er“ den Eingang zu ihrem Partykeller neu pflastern. Der das gesamte Gelände umgebende hohe Zaun wirkt sehr ausgrenzend. Einmal durch das Tor getreten, muss man noch zwanzig Stufen zum Plateau hinaufsteigen. Eine zusätzliche psychologische Grenze besteht darin, dass man sich auf ein uneinsichtiges Terrain begibt, ohne genau zu wissen, was einen dort erwartet. Der Platz selbst ist stark dem Wind ausgesetzt und Geräusche fangen sich unter dem Dach, sodass parallel laufende Aktivitäten miteinander konkurrieren und einander stören. Der Raum ist nach allen Seiten offen, was die Konzentration erschwert: die Aufmerksamkeit fliegt in alle Richtungen davon. Hier wird drei Wochen lang täglich gearbeitet und ausprobiert. Die Atmosphäre für kreatives Arbeiten bildet sich jeden Tag neu: Unterschiedliche Menschen kommen zusammen, immer wieder wechselt das Wetter, verschiedene Gestaltungsaufgaben stehen an.

Das Team aus Künstler_innen unterschiedlicher Disziplinen macht Angebote: Man kann sich im Schauspielen üben – zum Beispiel Baum sein, Ast sein, Wurst sein. Man kann vor der Kamera stehen, selber filmen oder eine eigene Geschichte erfinden und filmen lassen. Man kann kellnern, schleifen, schrauben und anstreichen. Langsam, mit der Zeit bildet sich eine Gemeinschaft. Es entsteht ein Wir-auf-Zeit mit Regeln und Abmachungen auf Zeit. In der Interaktion aller Beteiligten – den Organisatoren wie den Kindern und Jugendlichen – werden Regeln des Zusammenseins gefunden, verletzt, verworfen, neu gefunden. Grenzen werden überschritten, neu gezogen, markiert, verwischt. Es wird möglich, ästhetische und soziale Entscheidungen zu treffen, Regeln und Rituale einzuführen und sich über unterschiedliche Wahrnehmungen, Wünsche und Sehnsüchte auszutauschen.

Mutter: „Céline, wo bist du?“  Céline: „Ich bin weißer Riese!“ 

Ahmed „Er kann einfach den Regen, der eigentlich auf uns kommt, also den kann er aufhalten. So wie ein Regenschirm ist er.“

Bei der Erfindung eines Ortes, wird ein „hier“ entworfen, das die Unterscheidung von einem Innen und einem Außen akzentuiert. Der Zaun und das Eingangstor gewinnen dabei noch an Bedeutung, Sie funktionieren nun noch stärker als erwartet schützend - aber auch ausgrenzend. Im Innen gilt: Keine Beleidigungen, keine Gewalt. Von außen werden manchmal Steine geworfen. Die hybride Anordnung zwischen Bühne, Café und Werkstatt ist ständiger Quell von Geschichten, Begegnungen, Zusammenstößen, Missverständnissen, Produktivität und Spaß. Es entstehen Gedichte, Windräder, ein Videoclip und Ideen für ein Freilufttheater.

2012 wird aus der Sammlung von Ideen, Beobachtungen, Gesprächen und Erfahrungen des Vorjahres heraus die Anlage probehalber zum Theater erklärt. Der große weiße Schirm bietet sich für Inszenierungen geradezu an. Hier erscheinen alltägliche Aktionen wie unter einem Brennglas seltsam aufgesockelt, durchaus zugespitzt, traurig, absurd oder lustig. Es treten expressive Talente auf, mit ihrer Lust auf der Bühne zu sein, von allen gesehen und bejubelt.

Um hier ein temporäres Theater bauen zu können, müssen einige minimale Bedingungen geschaffen werden. Eine Bühnenbildnerin und eine Dramaturgin werden eingeladen, um für die handwerkliche Grundlagenarbeit zu sorgen. Gemeinsam wird die räumliche Anordnung von Bühne und Zuschauerraum festgelegt. Als Materialien stehen hundert Europaletten, Holzlatten, Stoffe, Seile, Schaumstoff und Farben zur Verfügung. An einem großen Modell kann man spielerisch verschiedene Anordnungen der Paletten ausprobieren. Außerdem gibt es einen Kostümfundus mit Kunstblumen und Perlen, eine Nähmaschine und eine kleine Druckwerkstatt.

In einem richtigen Theater ergeben sich die Abläufe aus der Logik einer durchgeplanten Produktion. Hier ist das anders. An diesem Ort geht es darum, eine Situation so zu gestalten, dass aus überraschenden und unplanbaren Augenblicken ein ästhetisches Moment entstehen kann. Um unterschiedlichen Menschen und ihren Fähigkeiten Raum zu geben, braucht es eine hohe Flexibilität. Dabei kann die geplante Chronologie der Ereignisse und alle Planung durcheinander geraten: Der Vorhang wird bedruckt, bevor noch die Bühne steht, eine Gruppe arbeitet an Kostümen, ohne dass das Thema schon festgelegt ist. Parallel erfinden einige Kinder Geschichten, andere bauen Kulissen. Schließlich arbeiteten alle gemeinsam an der Dramaturgie.

Aus dieser Arbeitsweise ergeben sich besondere Herausforderungen. Die Künstler und Künstlerinnen begegnen allenthalben unvorhergesehenen Problemen und sollen daraus etwas entwickeln. Sie tragen Verantwortung für Form und Ästhetik und können das Ergebnis doch nur teilweise kontrollieren. Anstatt aber Kulturtechniken oder kulturelle Werte vom Künstler zum Klienten – den Kindern und Jugendlichen – zu vermitteln, übertragen sich im Verlaufe des Projekts die Ideen und Qualitätsansprüche in beide Richtungen. Am Ende zählt, wie das Ergebnis aussieht, wie es gemacht ist und ob die Zuschauer es mögen. Dem Zusammenspiel selbst wird so eine Bühne geschaffen.

Seraphina Lenz, April 2013
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